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Rechts, rechts – wieviel hab ich noch? fragt Axel, während er konzentriert steuert und ich nahezu den Atem anhalte und mich tiefer in den Beifahrersitz presse. Wir sind in der Röhre.

Was war passiert?  

Mount Sosto
Blenio Tal Tessin

Nach unserer Nacht hinter den Holzstämmen, geniessen wir beim Frühstück das Panorama. Das Tal der Sonne wie es übersetzt heisst, das Bleniotal, liegt uns förmlich zu Füssen. Der eigentümlich gleichmässig geformte Berg Sosto erhebt sich wie eine ägyptische Pyramide über dem Tal. Wenig später winden wir uns nach unten. Prachtwetter lässt die herbstlich gefärbten Hänge erstrahlen. Eigentlich soll die Fahrt nach Süden zügig zum Lago Maggiore gehen, doch spontan entscheiden wir uns für einen Abstecher in ein Seitental nach Campo Blenio. Über schmale Serpentinen steigt die Strasse von 914 auf 1609 Meter an bis zum Stausee Lago di Luzzone. Glücklicherweise gibt es keinen Gegenverkehr. Begegnungen könnten nur an Ausweichstellen stattfinden und das Zurücksetzen wäre abenteuerlich.

Die Strecke führt an steilen Abhängen, Überhängen vorbei und durch grob behauene Tunnel. Plötzlich stehen wir vor zwei Tunneleinfahrten. Die Beschilderung gibt keine Klarheit und so wählen wir die Rechte. Die Tunnelbreite ist extrem schmal. Grade unsere Busbreite. Am linken Fahrbahnrand verläuft ein mit Wasser gefüllter Graben in dem es ordentlich rauscht.  Links gleitet der Aussenspiegel zentimeternah an der Mauer entlang. Dann endlich Tageslicht, wir sind gleich draussen. Aber was ist das? Eine Sackgasse. Wir stehen auf einem engen Drehteller und schauen über die Brüstung an der Staumauer herunter. Auf dem Platz steht ein kleiner Bagger.

Der Arbeiter blickt uns verdutzt an. Ehe er den Mund aufmachen kann, haben wir gedreht und verschwinden wieder im Tunnel, in den er hinter uns einfährt. Wir befinden uns im Servicetunnel in der 225 Meter hohen und 5,60 Meter breiten Staumauer des Stausees unter der Wasseroberfläche. Die Bauarbeiter haben vergessen den Tunnel abzuriegeln. Vermutlich rechneten sie nicht damit, dass in der Nebensaison ein Fahrzeug hier oben auftaucht und eben in diesem Tunnel landet. Tunnel Nr. 2 führt uns zu einem Parkplatz oberhalb des Stausees mit grandioser Aussicht.

Den Park-Kaffee hat sich der Fahrer nach diesem Manöver heute wirklich verdient. Bald schon verlassen wir unseren Bulli und marschieren am See entlang, der erste Kilometer geht durch einen Tunnel. Es ist kalt, nass und recht dunkel. Wir sind froh bald wieder im Sonnenschein zu sein.

Die Handvoll Wanderer verlieren sich, als der Weg schmaler und unwegsamer wird. Teilbereich sind glitschig, mit kleinen Geröllabgängen übersät und steil. Überwachsenen Holzstege haben längst kein Geländer mehr und am Ende einer enger werdenden Schlucht beschliessen wir, umzukehren. Die absolute Stille wird nur durch unsere Schritte und das Rauschen von Wasserfällen unterbrochen. Vieh ist schon längst von dem Almen geholt. Verlassen liegen Stallungen am Weg. Am Wassertrog machen wir Rast und essen unsere Brote. Abgestorbene Bäume ragen bizarr und dunkel aus dem in diesem hinteren Teil türkisfarbenen Wasser des Sees. Eine Jahrhunderte alte Lärche ragt knorrig gen Himmel.

Ein bisschen fühlen wir uns verloren und der Wirklichkeit entrückt. Es ist eine Herr Der Ringe Stimmung, die die karge Schönheit der Natur beängstigend wirken lässt.  Gut gestärkt treten wir den Rückweg an und nähern uns wieder der Zivilisation – hier dem von Menschen geschaffenen Bauwerk zur Stromgewinnung. Sportlern dient die Staumauer von Luzzone als längste künstliche Kletterroute der Welt seit sie im Jahr 1999 angelegt wurde mit 163 Metern, fünf Seillängen und über 650 Klettergriffen. Der Schwierigkeitsgrad liegt bei 6+/7-. Diese Herausforderung wollen wir uns aber nicht stellen, denn bereits auf unserer Route wurden uns am Ende die Knie weich. 

Kletterstrecke an der Staumauer