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Hamburg

Zum Saisonbeginn fällt mir ein altes Geoheft in die Hände: Die Nordsee. Das rauhe Schelfmeer übte schon immer eine Faszination auf mich aus. An manchen seiner Ecken sind wir als Segler jedoch froh wie wir sagen „ schnell durch zukommen“ solange der Wettergott Neptun mild gestimmt ist. Durch Wind und Strömung sind die Küsten mit ihren vielen Sänden und Flachs ständigen Veränderungen unterworfen.

Dazu noch gelten Teile der Nordsee als eines der am stärksten befahrenen Gewässer der Welt. Schon ab Windstärke 5 bis 6 Beaufort kann es in der Elbmündung für ein Sportboot gefährlich werden, wenn auflandiger Nordwestwind steile Wellen aufwirft gegen den ablaufenden Tidenstrom des Flusses. Aber genau diese unbändige Natur ist es, die eine wiederkehrende Anziehungskraft auf mich ausübt. Die endlose Weite des Meeres und der freie Blick zum Horizont, die Stille, wenn die See friedlich ist und das ungestüme Brausen, wenn ein Sturm tobt, der oftmals scharfe Wind wirkt befreiend und reinigend für den Geist. So ist beim Durchblättern des Magazins schnell die Idee einer Winterreise geboren. Wir backen aber kleine Brötchen und treten den „Törn“ mit dem Bus an über Land.

Natürlich kommt es immer anders als geplant. Erst plagt eine lästige Erkältung und dann ärgert das Wetter mit Schneeregen und Blitzeis in Hamburg und Schleswig Holstein und vermasselt die Reisepläne, so dass sich unsere geplante Tour nach hinten verschiebt. Wir liegen auf der Lauer und beobachten die Wetterprognosen. Schliesslich ist es soweit bei angenehmen fünf bis acht Grad Celsius plus. Akribisch wird der Wagen gepackt mit Skianzügen und mehreren Daunendecken, Heizlüfter und Proviant. Am nächsten Tag rauschen wir los. Unterwegs geniessen wir am späten Vormittag erstmal ein gemütliches Frühstück mit Ei.

Da wir rumgetrödelt haben und es früh dunkel wird, ergibt sich ein erster Stopp in Wildeshausen. Noch schnell einen kalten Teller mit Tomate Morzarella und dann ab ins Bett.

Am nächsten Tag fahren wir zum Winterlager von Astarte. Es ist das erste Mal, dass wir nach dem Rechten schauen und noch eine beauftragte Arbeit, die erledigt wurde, quasi abnehmen und begutachten wollen. Als wir das Gelände erreichen ist alles verwaist. Es regnet und die Schwimmstege sind abgebaut, der Hafen leer. Wir fahren vor unsere Halle, schliessen auf, drehen das Licht an und laufen zwischen den Rümpfen der Boote zu Astarte. Sie macht einen guten Eindruck so frisch und sauber.

Das Hallenklima ist angenehm und alle Boote sehr ordentlich gelagert. Kurze Stipp-Visite im Bootsinneren, alles wieder zu recht rücken und die Leiter zurücklegen, wir sind zufrieden und schliessen noch den Strom an, um die Batterien aufzuladen. Draussen ist es nasskalt und grau in grau. Wir wandern am Ufer entlang zu einem anderen Hafen.

Hier liegen noch Boote im Wasser. Wie anders ist die Winterstimmung mit den abgedeckten Rümpfen und den kahlen Bäumen. Am Himmel zieht ein Gänseschwarm in der V-Formation über unsere Köpfe hinweg. Im Vereinshafen angekommen stauen wir über das rege Treiben. Der Parkplatz ist voller Autos, im Vereinshaus Licht und bekannte Gesichter laufen über den Steg. Eine junge Frau erzählt: „Wir haben heute Weihnachtsfeier und gleich geht vom Tauchverein das Fackelschwimmen los, hoffentlich hält sich das Wetter.“ Denn noch ist es zumindest von oben trocken. Wir treffen die Dame von der grossen Amel. „Ich habe schon den Kuchen reingebracht. Aber wir sind sauer auf den Hafenmeister. Er lässt nach, jetzt über 70. Als wir im Sommer zurückkamen, da war unser Platz belegt von einem Holländer. Der musste extra aus den Niederlanden anreisen, um sein Schiff umzulegen. Auch der war dann sauer.“ Auf Nachfrage wie denn so die Temperaturen waren bisher, meint sie „ na ja letzte Woche mal minus 14 Grad, aber wir haben Entfeuchter aufgestellt, dem Schiff macht das nichts.“ Wir wünschen ihr eine friedliche Weihnachten. “Ja wenn es hier nicht mehr friedlich bleibt, dann geht es wieder ab in die Karibik per Boot”, meint sie. Wir bestaunen die Planenkonstruktionen einiger Boote und bleiben an einem stäbigen Yacht mit Heckbügel stehen. Das Eignerpaar kommt grade von einem langen Norwegentörn zurück. Es ist das einzige Langfahrtboot am Steg und noch unter vollen Segeln. Sehr lange haben sie in Farsund festgehangen als der Jahrhundertsturm über die Ostsee fegte, berichten sie. Es entwickelt sich ein intensives Gespräch über Technisches, Bootstypen, Reviere, Überwinterung. Schliesslich setzt Nieselregen ein und ich zupfte den Skipper am Ärmel, um ihn zum Aufbruch zu bewegen. Er ist froh, dass ich die Regenhosen im Rucksack dabei habe und wettergerecht verpackt treten wir mit dem letzten Büchsenlicht den Rückweg an. Über dem Wasser liegt schon eine Nebelbank und nur noch schemmenhaft sind die Umrisse der vorbeifahrenden Frachter zu erkennen, aber ihre Annäherung ist unschwer durch die dumpf brummenden Maschinengeräusche zu orten. Am Bus beschliessen wir, dass wir auf dem Werftgelände übernachten, aber vorher noch zum Essen fahren. Unser beliebtes Fischrestaurant ist leider ausgebucht. Ohne Reservierung keine Chance vor Weihnachten. Wir landen beim benachbarten Griechen und schwubs trinke ich einen kleinen Schluck meines ersten Ouzos im Leben.

Im tiefen Dunkel geht es über schmale Landstrassen zurück. Satt und müde senkt sich nach dem Bettenbauen schnell der Schlaf auf unsere Lider.

Am nächsten Morgen gibt es erstmal eine heisse Dusche und dann noch schnell zur Halle und den Stromstecker wieder rausziehen. Wie immer bei uns ändern sich die Reisepläne spontan. Die Zeit bis Weihnachten ist für die geplanten Strandspaziergänge an der dänischen Westküste mit An- und Abreise zu knapp. Ich überschlage unsere Möglichkeiten und so beschliessen wir schnell, dass bei Dauerregen unser Vorhaben auch keinen Spass macht. Auf geht es zum Shopping ins Outlet nach Neumünster. Hier sind wir heute besser aufgehoben. Na dann gucken wir mal bei Gant rein nach maritimen Klamotten. Eigentlich braucht man ja nichts, aber durchstöbern können wir trotzdem. Schliesslich kommen wir zu dem Ergebnis, dass oft Qualität und Preis nicht zusammen passen und erstehen das was wirklich gebraucht wird, da verschlissen, eine Wanderhose und ein paar Turnschuhe. Bei einer Mischung aus Flammkuchen und Pizza in der Systemgastronomie erholen wir uns von der Kaufanstrengung.

Noch am Abend verholen wir uns Richtung Hamburg. Mittlerweile empfinden wir die nächtlichen Temperaturen sogar als zu warm und die dicke Zusatz Eiderentendaunendecke, die bei uns den Spitznamen Sticky Ente trägt, kam bisher noch nicht mal zum Einsatz.

Im Blockhouse Ahrensburg

Am nächsten Morgen sind Windschutzscheibe und Motorhaube ordentlich mit Möwenschiet bekleckert. Während ich auf dem Vorderreifen stehe und den Dreck mit Küchenkrepp beseitige, werde ich dabei von einer neugierigen Anwohnerin aus dem Fenster beobachtet.

Nach dem Müsli Frühstück geht es in die Innenstadt und bald laufen wir entlang der Aussenalster, bestaunen die aufwendig weihnachtlich illuminierten Fassaden und die kühle Noblesse der weissen Patrizierhäuser in denen Verlage, Versicherungen, Reedereien ihren Sitz  oder betuchte Anwohner ein Refugium gefunden haben. Ein einzelner Hartgesottener Ruderer gleitet über die Wasseroberfläche der Alster. Mittlerweile ist es dunkel und vorbei am prachtvollen Hotel Vier Jahreszeiten mit vorfahrender Limousine, bei der der weinrot und gold livrierte Portier gekonnt und formvollendet die Tür öffnet, geht es Richtung Jungfernstieg. Die Auslage im Laden neben dem Fünfsterne Hotel hält Strickpullover für EUR 2.698,- bereit.

In einer Metropole wie Hamburg ist alles da. Von ganz unten bis ganz oben. Ein Spiegel der Welt, arm und reich; gut und böse; jung und alt; schön und hässlich. Es ist ein Eintauchen in einen bunten Strauss des Lebens, der mitreissend ist. Im täglich wiederkehrenden Rhythmus pulsiert die Stadt mit ihrem Verkehr, Warenumschlag, Kulturbetrieb und vielem mehr.

Die nassen Strassen glänzen im Schein der Autoscheinwerfer. Ein flimmerndes Band der hell erleuchteten Fenster der Gebäudefassaden umringt die Binnenalster. Hier im Herzen der Hansestadt ist das Eldorado der Edelmarken und Luxusgüter aus aller Welt. Vielfältig, grenzenlos, es fallen kaum Adjektive ein diese aufwendigste Darbietung von Waren und Dienstleistungen zu beschreiben.

Der Weihnachtsmarkt auf dem Rathausmarkt ist ein wahrer Höhepunkt weihnachtlicher Stimmung.

Hochwertiges Kunsthandwerk von Porzellan, Zinn, Schmied für Glückshufeisen, Holzdrechselarbeiten, Textilien von Wollsachen und feinen Webstoffen, um nur einige herauszuheben und ein grosses appetitliches Gastronomieangebot für jeden Geschmack mit perfekt uniformiertem Personal, bieten dem Besucher ein wahrlich breites Angebot sich zu verköstigen und zu unterhalten.

Reicher um viele Impressionen laufen wir nach einigen Stunden zurück zum Bus und lassen den Abend im Steakhouse ausklingen. Für mich hat dieses Restaurant eine besondere Bedeutung und die Reise ist auch eine Reise zurück in die Vergangenheit. Im Stammhaus der Blockhouse Kette, dem ersten Restaurant, dass hier 1968 gegründet wurde, sass ich erstmalig während meiner Ausbildungszeit als Gast im Jahr 1983. Bis auf die Restaurierung verschlissener Polsterbezüge und Vorhänge ist alles wie damals geblieben. Die Anordnung der Tische unverändert. Ich zeige dem Skipper den Tisch wo ich mit meinen Kollegen oft zum Mittagstisch gesessen haben. Wo sind doch die 40 Jahre geblieben.

Wir parken in genau der Strasse an der Aussenalster wo ich gearbeitet habe und verbringen vor einem scheinbar unbewohnten Haus eine ruhige Nacht. Am Morgen gibt es die ersten Gassigänger, während wir unsere Betten verstauen und wieder für den Fahrbetrieb umbauen. Heizen mussten wir bisher nachts nie nur am Abend.

Heute geht es zum Hafen. Das Wetter hat sich weiter verschlechtert, aber zum Glück gibt es keinen richtigen Regen.

Wir laufen alles ab vom Sportboothafen mit Feuerschiff, vorbei an der Rickmer Rickmers mit ihrer Gallion, die den Enkel des Firmengründers als Jungen zeigt. Wie gestern kommt es mir vor, dass ich in Blankenese den Schnitzer dieser Figur interviewt und einen Bericht über die Entstehung der Gallion angefertigt habe. Unfertig aus dem Holzblock noch mit groben Zügen bearbeitet, sehe ich das Werkstück vor mir und nun hängt es glatt und weiss lackiert schon Jahrzehnte am Bug des Windjammers.

Auf dem Landungsbrücken angekommen, stellen wir fest, dass die Strömung der Elbe stark ist. Durch die Fahrwasservertiefung ist sie über die Jahre stärker geworden auch zum Leidwesen der Sportbootskipper.

Fahrgastschiffe legen an und ab, spucken Fahrgäste aus, unter anderem eine Schulklasse i-Dötzchen.

Da gibt es noch die Musicalzelte König der Löwen und nun neu Eisprinzessin auf der anderen Elbseite mit den Zubringerschiffen, die Kitsch- und Andenkenläden, die vielen Rundfahrtbarkassen, die Koberer für Hafenrundfahrten, die mit markigen Sprüchen um Fahrgäste buhlen, selbst heute bei diesigem Wetter. „ Kommt ihr zwei Hübschen, immer rein ins Schiff zur grossen Hafenrundfahrt, ihr habt doch bestimmt nichts besseres vor“. Der Slang von der Waterkant ist unverkennbar und weckt Wehmut. Hier beginnt schon seid Jahrhunderten für viele Menschen das grosse Abenteuer entweder weil sie müssen, Auswanderer aus Not, als politischer Flüchtling, shanghaiter Seemann oder eben diejenigen, die das Fernweh gepackt hat. Es ist der Sog in die grosse weite Welt zu fernen Ufern mit der Verheissung auf ein besseres Leben.

Für uns geht es erstmal weiter zum Fischmarkt vorbei an dem einst so brisanten Schmelztiegel für Anarchie: den Häusern an der Hafenstrasse. Heute wirkt die Ecke zahm und eingeklemmt zwischen Neubauten, weisen nur noch ein paar Wandschmierereien auf die Geschichte der Häuser hin. Wir geniessen ein leckeres saftiges Lachsbrötchen in einem Cafe hinter der Fischauktionshalle. Mittlerweile pfeifft ein scharfer Wind und es hat Nieselregen eingesetzt. Frisch gestärkt geht es zum Auto zurück. Die Politesse dreht schon ihre Runde, aber wir sind im timing und so pint sie ihre Strafzettel nur an die Nachbar PKWs. Vorbei an vielem Bekannten der Stadtteile ums Univiertel geht es langsam raus aus der Hansestadt. Wir wollen nach Glückstadt, um von dort morgen mit der Elbfähre nach Wischhafen auf die andere Elbseite überzusetzen zu unserem nächsten Ziel Cuxhaven.

Glückstadt

Das hübsche Städtchen an der Elbe ist überschaubar und bei dem Schmuddelwetter schnell durchschritten. Unsere letzten Weihnachtsgrüsse Richtung England gehen hier zur Post. Wir laufen den Hafen ab, teils über sehr glitschige Holzstege und betrachten die Überwinterer. Traditionssegler, Motorboote, Yachten mehr oder weniger gut auf die anstehende Frostperiode vorbereitet. Entweder sorgfältig abgeplant mit „nacktem“ Rigg bis zu Dingi noch dranhängen gelassen und Segel angeschlagen.

Am Aussensperrwerk drehen wir um.

Kein Mensch weit und breit, es ist ein bischen gespenstisch und der Skipper mahnt: „ Lass mal drehen, denn wer weiss, ob die nicht abends die Fluttore schliessen.“ Dann wäre uns der Rückweg abgeschnitten. Wir holen noch bei einsetzendem Regen ein paar Lebensmittel vom Lidl bevor wir uns verkriechen.