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„Was macht der Kerl da? Ich werd´ verrückt, der steht da wie eine Salzsäule. Wo soll ich…? Wie soll ich…!

Werftgelände in Gilleleje

Zum Glück ist nicht viel Wind und Astartes Bug gleitet langsam auf den Steg zu. Von der Entfernung sieht es zunächst so aus, also würde ein freundlicher Herr beim Anlegemanöver behilflich sein wollen und unsere vorderen Festmacher annehmen.

Doch das ist Wunschdenken. Tatsache ist, dass ein bärtiger Mensch dessen graublondes schulterlanges Kopfhaar eine verfilzte Einheit bildet mit einem ungepflegten Bart in verschlissener Kleidung, die einen grau-grün-braun Ton angenommen hat, vor Dreck und Verwitterung steif geworden ist und meiner Nase unmissverständlich mitteilt, dass sie schon lange nicht mehr eine Waschmaschine von innen gesehen hat, genau dort auf dem Steg wie angewurzelt steht, wohin ich abspringen muss. Er starrt Astarte an und scheint mich gar nicht zu bemerken, die nun um ihn herum turnt, halb unter ihm gebückt, um unsere Leinen zu befestigen. Flugs sehe ich zu wieder an Bord und Abstand zu ihm zu bekommen, argwöhnisch auf seine nächsten Handlungen gefasst.

Axel ruft mir vom Cockpit aus zu: „Das ist ein ganz armer Mann“. Recht hat er. Nachdem der augenscheinlich Obdachlose sich mit seiner Plastiktüte trollt ohne ein Wort verloren zu haben, wendet er sich dem nächsten Mülleimern auf dem Hauptsteg zu, um hier nach Leergut oder vermutlich sogar noch Essbarem zu suchen, werde ich nachdenklich. Jeden kann jederzeit ein Schicksalsschlag treffen und das Leben ist von einer Sekunde zur anderen von „happy zu „ugly“ gewendet, so auch umgekehrt. Seien wir ehrlich und wir nehmen uns davon selbst nicht aus, man möchte nur die gute Seite des Lebens sehen, die Annehmlichkeiten haben und wegschauen.

Gilleleje hat sich gegenüber unserem letzten Besuch vor mehr als 25 Jahren natürlich verändert. Lagen wir damals im alten Fischerhafen im Päckchen und zwar im Sommer so dicht gepackt, dass man von einer Kaiseite zur anderen über die Decks hätte gelangen können, so ist nun ein Yachtbecken mit Stegen vorhanden. Doch zu glauben, der Gastlieger käme nun besser unter, weit gefehlt. Jetzt, Mitte Mai, ist für unser Grösse und vor allem Breite keine Box frei, also aussen an die Kante. Nicht ideal, da für die nächsten Tage kräftiger Westwind vorhergesagt und das Scheuern und Knarzen des Bootsrumpfes nicht angenehm ist. Glücklicherweise können wir uns am späten Abend noch umlegen, nachdem wir von einem dänischen Segler den Tipp bekommen, dass ganz hinten innen wo eigentlich nur die kleinen Boote liegen ein paar Boxen für grössere Yachten sind und ein Platz zeigt das grüne Schild „frei“. So treffen wir auf den Dosensammler.

Badestelle von Gilleleje

Querab von unserem neuen Platz befindet sich eine Badestelle, die noch am späten Abend rege genutzt wird, vornehmlich von Teenagern. Jungen in Unterhose und Mädchen in BH und kurzem Rock necken sich, rangeln und poussieren. Die Hormone sorgen wohl für ausreichend Wärme, denn mit nassen Haaren und kaum bekleidet springen sie bis spät herum, während wir den kalten Westwind aussperren und die aufsteigende Abendfeuchte mit dem Heizlüfter bekämpfen. Neben uns kriecht ein schwedisches Paar aus dem Niedergang ihres Bootes. Wir kommen ins Gespräch. Es ist ihr erster Anlaufhafen nach dem Neuerwerb der Yacht. Sie starten in das Rentnerleben und wollen die nächsten Monate die Ostsee erkunden. Aber nicht im Juli, sagen sie. „Da ist es zu voll und wir kümmern uns um die Enkelkinder.“

Am nächsten Morgen zwinge ich mich, trotz Nieselregen zu meinem Gymnastikprogramm. Im Leeschutz des Clubhauses stretche ich ein bischen verfroren herum, während eifrige Dänen Zelte und Tische aufbauen, am kleine Strand ein Feuer entzünden und den ganzen Tag das Event „Natur für jedermann“ durchziehen, trotz des ungemütlichen Wetters. Der Däne ist eben abgehärtet. Dazu trägt vermutlich das ganzjährige Kaltbaden bei. Immer wieder kommen Badegäste jeden Alters in schlabberigen Bademänteln, grossen Ponchos oder wattierten Mänteln barfuss zum Badesteg. Wir haben unser Abhärtungsprogramm für Weicheier. Das Duschwasser an Bord ist mit lauwarm noch beschönig umschrieben und so wird das ausgiebige Duschen stark verkürzt. Heisses Wasser gibt es nur, wenn wir vorher unter Maschine gefahren sind, doch nach einiger Hafenliegezeit kühlt sich das warme Wasser selbstverständlich ab. Wir hoffen bald die Reparatur  am defekten Wasserboiler erledigen zu können, sobald wir das fehlende Werkzeug organisiert haben, denn wir sind eben Warmduscher.

In Gilleleje liegt nach wie vor eine der grössten Fischereiflotten Dänemarks. Die kleinen Kapitänshäuschen jedoch sind mittlerweile fest in der Hand von betuchten Kopenhagenern, um frisch renoviert als Feriensitz zu fungieren. Die handverlesene Upper class residiert in gepflegten weissen Villen mit wertvoll bestückten Parkgrundstücken, die eine herrliche unverbauten Aussicht auf das Kattegat und sogar noch das grüne Hinterland zur anderen Gebäudeseite bieten. Die meist schwarzen Karossen nobler Automarken parken auf der Auffahrt oder unter den grosszügigen Carports wo sämtliche Toys für den modernen Zeitvertreib von Quad, Mountainbikes, Kajaks und SUPs lagern. Für ein kleines Fischerdorf ist das Warenangebot an schicken Boutiquen, Wohnaccessoires, Supermärkten, Sportläden und die Auswahl an fine dinning überaus breit. Ein überdimensionales Cinemax im Ortskern in einem modernen Holzbau dient wohl dazu, den Sprösslingen des wohlhabenden Klientels an Regentagen Kurzweil zu verschaffen. Selbst jetzt in der Vorsaison brummt der Ort am Wochenende. Die Strassen sind verstopft mit Autos, die Tische der Restaurants sind voll mit Menschen.

Während Axel auf unsere Räder aufpasst, versenke ich das Leergut im runden Schlund des Automaten. Eigentlich brauchen wir nichts, doch zum Gegenrechnen hole ich uns zwei Noxen (ungesunde Pizzabrötchen), da nichts besseres in den abgegrasten Fächern von Fakta liegt. Während ich die Teigwaren einpacke, kommt ein Mann dicht an mich heran und hustet mich mehrmals regelrecht an. Axel meint später draussen zu mir: „das ist ein radikaler Coronaleugner. Der hatte Dich auf dem Kieker, da Du eine Maske auf hattest und wollte Dich verhöhnen.“ Trotz des bisher einmaligen Zwischenfalls setzte ich für Supermarktbesuche weiterhin eine FFP2 Maske auf und lasse mich nicht beirren, auch wenn ich überall die Einzige bin.

Das Wetter ist durchwachsen, immer wieder entleeren sich dunkle Wolken und bringen Windböen mit. Der Sonntag verspricht sonniger zu werden. Es ist klassisches Rückfrontenwetter. Klare Sicht und kräftiger Wind bei strahlendem Sonnenschein. Unser heutiges Ausflugsziel ist der Leuchtturm Nakkehoved Fyr.

Am Steilufer geht es über einen schmalen Waldweg durch Buchenwald vorbei an Villen und einem Ausflugslokal. Auf einer Bank geniessen wir den weiten Blick Richtung Kattegat.

Da kommen zwei Ringeltauben angeflogen, lassen sich auf einem Zweig nieder und schauen ebenfalls Richtung Meer. Sie bleiben und rühren sich nicht von dem Ast. Für mich sind sie das Symbol einer glücklichen Liebe die ich auf uns beide projeziere und die hoffentlich noch lange währt.