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Nach der Morbidität der Auswüchse der Sowjetvergangenheit in einigen Gegenden Lettlands, tauchen wir mit unserer Ankunft auf der kleinen estischen Insel Kihnu am Nordrand des Rigaischen Meerbusens in eine andere Welt ein. Hier empfängt uns eine Idylle wie in einem Freilichtmuseum.

Die Farben sind frisch, die Rasenflächen kurz geschnitten, alles ist gepflegt und aufgeräumt. Die Infrastruktur ist auf dem neuesten Stand. Mülleimer, Toiletten, alles ist sauber und modern. Die sieben mal vier Kilometer grosse Insel ist per Fähre mit dem Festland verbunden. So müssen wir dieser den Vortritt

beim Anlegemanöwer lassen und warten bis das weisse Fährschiff, das als Icon die folkloristischen Stickmustern der Insel trägt, fest ist. Eine finnische Familie, die fünfköpfig auf einem kleinen Boot unterkommt, ist schon da. Später treffen noch zwei deutsche Boote, die wir schon aus Riga kennen, ein. Der Hafen wir von der Fährgesellschaft betrieben. Praktischerweise wird die Hafenmeisterin, deren Dienstzeit von 8.00 bis 22.00 Uhr dauert und mit den Fährzeiten zusammenfällt, voll ausgelastet, da sie die Leinen der Fähre festmacht, die Tickets der Fahrgäste ausstellt, Toiletten putzt, Flaggen setzt, Rasen mäht, die Tankstelle betreut, Mülleimer leert und auch das Hafengeld kassiert, um nur einige ihrer Aufgaben zu nennen. So ist es klar, dass die Frau stabil sein muss. Ihre Körperform ähnelt denn auch der eines grossen Kastens. Mächtige Arme umrahmen die schweren Brüste über die sich die neongelbe Arbeitsweste mit Reflexionsstreifen spannt. Das Gesicht ist rund und bullig. Die praktische blonde Kurzhaarfrisur mit Seitenscheitel rundet das Gesamtbild ab. Als wir am nächsten Tag verlängern, hat eine Kollegin Schicht, die vom Gesichtsschnitt ein genaues Abbild ihrer Vorgängerin vom Vortag hergibt – einziger Unterschied, sie hat dunkle Haare. Der gleiche massige Körperbau in Warnweste thront im Bürostuhl im ersten Stock des Servicegebäudes von dem sie alles überblickt.  Die Männer, hager und eher schmächtig, beschäftigen sich hier wohl hauptsächlich mit dem Fischfang. Am Abend taucht die Sonne den Hafen in goldenes Licht. Die See ist spiegelglatt, nur einige Schwäne, Enten, Möwen ziehen dahin und unterbrechen mit ihren Schreien oder Flügelschlägen die Stille. Wir machen eine Erkundungsrundgang, sind aber gegen Mücken gewappnet, die auch sofort ihre Blutmahlzeit suchen und prompt Axel auf die einzige freie Stelle an der Stirn stechen. Am Steg amüsiert sich die Dorfjugend mit einem Motorboot und dem Hinterherziehen einer Tube. Glücklicherweise verlieren sie irgendwann die Lust an den Vollgaskreisen im Hafenbecken, die für unangenehmen Wellenschlag sorgen.  Der Hafen ist nicht komplett nach allen Seiten geschützt, so dass er sich zum Abwettern eines Sturm aus der falschen Richtung nicht eignet. Am nächsten Tag unternehmen wir eine Radtour zum Leuchtturm. Es ist heiss und die Mücken sind hungrig.  Da heisst es in die Pedale treten und schneller sein. Zusätzlich sprühen wir mehrmals Insektenschutz nach, um uns die Plagegeister vom Leib zu halten. Kiefern, Wachholderbüsche, Gräser und kleine Dörfer liegen links und rechts. Nahezu jedes Gehöft besitzt einen Ziehbrunnen. Der Waldboden ist mit Maiglöckchen bedeckt. Diese dem Bärlauch sehr ähnlichen Blätter sind sehr giftig. Aus Einfahrten schiesst ab und zu ein altes Auto hervor, meist ohne Nummernschild. Endlich ist die Südspitze der Insel erreicht, Pitkäna nina. Der Leuchtturm soll Seefahrer vor den Flachs und Riffen warnen. Als im Jahr 1718 die russische Flotte wuchs, begann auch die Ära der Leuchttürme. Es war billiger die Türme in Teilen aus England zu importieren, als sie selbst in Stein zu bauen. So lieferte die Firma Porter & Co aus Staffordshire, England, 1863 drei identische eiserne Leuchttürme nach Estland. Einer davon wurde ein Jahr später auf Kihnu aufgebaut. Der wichtigste Part, die Fresnell Linse Kategorie III wurde von Chance Brothers & Co., England geliefert. Die Reichtweite des weissen Lichts beträgt 11 Seemeilen.  Historisch waren die Leuchtturmwärter der Gegend meistens Russen. Wir zwängen uns die engen Stufen hinauf. Unterwegs lässt sich schon ein Blick hinaus durch die Bullaugen auf unterschiedlichen Höhen werfen.

Draussen hat man den Rundumblick über das satte Grün der Insel und das Blau des Wassers in der Ferne. Am Strand ist das Wasser braunrot. Wir sehen wie eine Horde Touristen auf den Ladeflächen von zwei LKWs im wahrsten Sinne des Wortes angekarrt werden und beginnen zügig den Abstieg, bevor wir mit ihnen auf den Stufen kollidieren. Das Eintrittsgeld kassieren und Eis verkaufen zwei Mädchen. Eine blond die andere brünett. Auch sie sind von starker Statur und sehr gut ernährt, regelrecht proper. Dies scheint hier auf der Insel der Frauentyp zu sein. Die Damen ähneln sich alle im Aussehen. Sie sollen noch in traditionellen Trachten auf Motorrädern mit Beiwagen über die Insel brausen und ihre Männer samt dem Fischfang des Tages einsammeln und in den Beiwagen nach Hause fahren. Wir haben dies nicht erlebt. Vielleicht wird es für die Touristen in der Hochsaison als Folkloreerlebnis geboten. Wir wissen es nicht. Einzig im örtlichen Museum hängen Fotos und Stoffe. Gegenüber erhebt sich eine orthodoxe Kirche. Den Mittelpunkt bildet ein Pood (hier Name für Laden) mit angegliedertem Restaurant. Die wenigen Touristen auf der Insel machen alle die gleiche Runde. Wir kühlen uns mit einem Eis ab und machen uns auf den Rückweg  zum Hafen. Über den Streuwiesen surren  die Wespen, der Waldboden ist bedeckt mit Nadeln und Moos.

Wirkt das Leben hier wie ein idyllischer Traum im Sommer so kann es im Winter zur harten, kargen Realität der Einsamkeit werden. Am Steg trifft spät noch eine Regattacrew aus Pärnu lautstark ein, rammt sich an unserer Bordwand vorbei zum Steg, ein Glück, dass wir viele Fender haben, doch bald ist wieder Ruhe. Am Morgen entdeckten wir, dass ein Crewmitglied wohl keinen Platz mehr in der Kajüte gefunden hat und es vorzieht im Schlafsack an Deck zu pennen. Leise klaren wir auf und lösen die Leinen. Wir verholen zum Tanksteg und tanken voll. Dann geht es mit achterlichem Wind weiter nach Pärnu. Hinterm Heck gurgelt es bald gewaltig, denn die Bucht ist flach und die Wellen laufen steil und kurz auf. Böen von 28 bis 32 Knoten fallen ins Rigg ein. Nach einer Weile laufen wir nur noch unter Gross ins Fahrwasser ein. Ein Frachter stoppt auf und wartet auf den Lotsen. Später müssen wir ihn erst im Hafenbecken drehen lassen. Das Anlegenmanöver am niedrigen Steg ist nicht einfach. Wir entscheiden uns die Heckboje per Bojenhaken einzupicken und dann schnell vorne die Luvleine zu fixieren. Das Manöver klappt. Ich belege die Leine provisorisch im Ringauge mit einem halbe Schlag. Der Wind ist so stark, dass das Boot sofort zurückgetrieben wird und die Vorleine hart ein ruckt. Schiff und Axel sind drei Meter weit vom Steg entfernt. Ich muss zurück an Bord. Mit weiteren Leinen und Maschinenkraft gelingt uns das Vorholen zum Steg. Es nützt alles nichts, für die nächsten Tage ist Starkwind vorhergesagt von der Seite. Wir brauchen eine zweite Leinenverbindung zu einer zweiten Boje und an der ersten Boje muss der verrutschte Haken justiert werden. Jetzt kommt mein Neoprenanzug zum Einsatz. Schnell in die schwarze Pelle, meine neuen Neo-Socken an die Füsse und ab geht es in die braune Brühe. Der Anzug gibt Auftrieb und hilft, denn die Leine zieht nach unten. Nachdem alles vertäut und gerichtet ist, springe ich unter die warme Dusche. Axel wird vom finnischen Nachbarn per Handschlag begrüsst. Mir ist er nicht geheuer mit seinen zerkratzten Beinen und dem blauen Auge. Am Nachmittag ist der Finne mit einem anderen finnischen Bootsnachbarn auf Sauftour. Eine polnische Herrencrew an Ende des Steges hat zum Bier eingeladen. Zum Glück ist das Klappern der Fallen im Wind so laut, dass ich die grölenden Kerle nicht höre. Später wird einer der Polen stockbetrunken von Bord gehievt. Sonst gibt es keine anderen Gäste. Ich stelle fest:“ den Gästen gibt man hier die schlechtesten Plätze.“ Denn der Steg tanzt bereits und biegt sich, kleine Wellen in Luv ergiessen sich platschend auf dem Beton. Hoffentlich überstehen wir die nächsten Tage hier unbeschadet, denke ich.