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Arbeiterviertel Kopi und Rocca al Mare Einkaufszentrum

Plattenbauten in Kopi

Wie ist das Leben ausserhalb der touristischen Altstadt? Das wollen wir herausfinden und fahren mit unserer Buslinie drei zur Endhaltestelle ausserhalb des Zentrums nach Kopi. Der Bus schlägt die Richtung zu den Werftbetrieben und Industrieanlagen ein. Wir fahren vorbei an zerfallenen Fabrikhallen und mehrstöckigen tristen Wohnblocks. Die Häuser bilden gleiche Abstände und lassen jeweils einen Grünstreifen frei wo auf verrosteten Eisenstangen ab und zu Wäscheteile hängen. Ein Supermarkt wirkt wie ein kommunistischer Konsum. Die Menschen sind altmodisch und billig gekleidet. Viele Gesichter wirken grob und verhärmt. Im Bus werden wir gemustert. Dies ist wohl keine Gegend für „Fremdkörper“. Mitten im Arbeiterviertel geht es raus im Pulk mit den wegstrebenden Menschen, die gebeugt unter der Last von Aktentaschen oder Plastikbeuteln mit Einkäufen in Hauseingängen verschwinden. Wir wenden uns Richtung Meer. Die Häuser weichen grosszügigen Parkanlagen und Wald. Eine weite Bucht öffnet sich mit einem langen Sandstrand. Die Küste ist gut besucht. Meist sind es Mütter mit Kindern und Kinderwagen, aber auch ältere Menschen, die hier den Tag verbringen. Einige stehen am Kiosk Schlange für Eis. Wir spazieren die ganze Bucht entlang, deren Wege teils über Holzstege durch Schilfgebiet geführt werden. Am Ende liegt ein modernes Einkaufsviertel. Das Rocca al Mare Zentrum. Bei unnachgiebiger Sonne queren wir Parkplätze und wollen mit dem Bus zum estischen Freilichtmuseum. Doch nachdem wir über eine halbe Stunde vergeblich nach der richtigen Buslinie an verschiedenen Haltestellen gesucht haben, geben wir auf und verholen und in eine Pizzeria im klimatisierten Einkaufszentrum, um wieder Kraft zu tanken. Nach dem Essen kaufen wir im gut sortierten Supermarkt Prisma ein. Ein internationales Warenangebot für food und non- food umgibt uns, doch unsere Transportkapazitäten sind begrenzt.Wir stocken auf mit dem leckeren fluffigen Hüttenkäse (Kooduste) von Pimameister Otto. Pimameister ist ein Milchmeister. Axel ist auf den Geschmack des Bieres von Karl Friedrich Rehbinderi gekommen und deckt sich ein. Mit vollen Rucksäcken und Tragetaschen geht es bepackt per Bus zurück an Bord.

Telliskivi Kultur- und Creativzentrum und Turg /Markt am Bahnhof Balti Jaam

Heute laufen wir direkt zu Fuss durch unser Viertel Kalamaja. Es ist Tallinns älteste besiedelte Gegend. Bereits im Mittelalter lebten hier Fischer und Segler. Sie lieferten den Grundstein zur Namensgebung Kalamaja heisst auf estisch Fischhaus. Nach industriellem Aufstieg wurde der Distrikt zu einem bedeutenden Fischereizentrum Estlands. Zur Blütezeit in den 1920er und 30 er Jahren entstanden hübsche Wohnstrassen mit zwei- oder dreistöckigen Holzhäusern. Unter der Sowjetherrschaft ab den 40er Jahren begang der Zerfall und Niedergang. Doch zu Beginn des 21. ten Jahrhunderts erstand das Viertel wieder auf. Eine neue Schar Residenten, die Kunst interessiert sind und creativ lieben es, alte Holzhäuser zu restaurieren und dem morbiden Charm eine neue moderne Richtung zu geben. Junge Familien und Singles investieren in die Zukunft. Die Schickeria beschreibt ihren Stadtteil selbst als „bohemian, romantic und bluesy“. Die Strassennamen Volta, Kundla, Kalamaja, vabricu klingen uns meldodisch im Ohr. Etliche Häuser sind von Bauarbeitern mit ihren Werkstattwagen umgeben. Handwerker turnen auf Gerüsten herum. Es wird geschliffen, gesägt, gehämmert, gemalt. Fassaden erstrahlen in neuem Farbenkleid gelb, braun, beige, ocker, grün, rot; andere sind noch im Dornröschenschlaf und tragen das graue Unikleid des Kommunismus. Hinterhöfe mit Garagen oder Hinterhäusern und grosszügige grüne Gärten umgeben viele Häuser. Verwitterte Häuserwände von denen sich die Farbe wellig ablöst, geben ein pittoreskes Bild ab. Im Zickzack erreichen wir das Bahnhofsgelände Balti Jaam. Moderne orange Züge transportieren Pendler. Vor dem Bahnhof befindet sich der Markt (in Landessprache Turg). Feste und flexible Stände wechseln sich ab. Die festen Boxen aus Metall haben Ähnlichkeit mit sehr alten Kiosken. Hier gibt es von der Eieruhr, über Schlösser, Schuster, Zigaretten, Lottobude bis zum BH alles zu kaufen zu sehr günstigen Preisen. Das Publikum und das Verkaufspersonal wirken ärmlich. Die Menschen hier unterliegen keinem Modediktat. Sie scheinen aus der Zeit gefallen und verbreiten einen gewissen Ostblocklook aus den ca 50er 60er Jahren. Die älteren Leute sind scheu und abweisend, reagieren teils verärgert auf meine Kamera und verstecken sich. Welch ein Kontrast zur ultramodernen Innenstadt mit den schicken weltmännischen Geschäftsfrauen und Männern, die die Cafes und Restaurants bevölkern und internationale Brands shoppen. Wir kaufen Aprikosen, Himbeeren, Tomaten und Gurken. Einige stillgelegte Gleise trennen den Markt vom Telliskivi Zentrum, das nur wenige Meter weiter liegt, aber eine andere Welt darstellt.

Das Telliskivi Creativzentrum besteht aus elf ehemaligen Industriegebäuden in Bahnhofsnähe, die teils renoviert wurden. Heute bieten die Hallen Platz für Design- und Vintage Boutiquen, Studios, Ausstellungen, Theater, Flohmarkt und Restaurants sowie Firmensitze der Medienszene. Phantasievolle Grafitti schmücken einige Wände, Plastiken stehen auf Plätzen, alte Teile einer Stromumspannanlage wurden stehen gelassen. Hier ist der Melting Pot für Newcomer, creative Ideen und vielleicht Marktdurchbrüche. Skype wurde in Estland erdacht. Vielleicht war es genau hier? Jedenfalls gibt sich das Klientel hier betont lässig. Beliebteste Textilfarbe ist schwarz, aufgepeppt mit einer lässigen Mütze in grau oder einer bunten Umhängetasche. Man kann auch mit Hilfe der Frisur seiner Individualität Ausdruck verleihen wie wir an der Vielfalt der akurat gezirkelten Bärte und Kopfschmücker feststellen. Wir durchforsten die Hallen vorbei an Möbel-, Klamotten- und Schmuckläden.Plakate weisen auf eine Vielzahl von Filmen, Konzerten, Lesungen, events aller Art hin. Neugierig gehen wir durch eine Tür , aber sind nicht etwa in einem Restaurant wie wir dachten, sondern mitten in einem think tank. Es ist eine Firma und wir stehen in deren Büro. Schreibtische stehen unorthodox in einem grossen Raum, der zur Hälfte allerdings wie eine grosse Küche aussieht. Alles in schwarz und Edelstahl. Geschwungene Sessel in den Ecken und Designlampen an der Decke. Überall Grüppchen, die sich besprechen, betont lässig mit einer Tasse in der Hand. Eine junge Frau erklärt uns, dass wir in einer Werbefirma gelandet sind. Beim nächsten Anlauf klappt es besser.

Wir finden noch einen freien Tisch im Foody Allen. Der Laden beschreibt sich selbst als trendige Eatery. Wir lassen uns überraschen. Der Saft Rhabarber mit Apfel gemischt schmeckt schon mal. Andere Läden heissen hier F-Hoone, Frenchy, Boheem, Apelsini Raudtee, Pudel Baar, letztere hat nichts mit Hunden zu tun, sondern heisst übersetzt Flaschenbar. Die Kellner im Foody Allen tragen Sweatshirts, die aus verschiedenen farbigen Teilen zusammengesetzt sind. Vorne ein Pfeil und auf dem Rücken ein F. Das Material soll recycelt sein. Es gibt Restaurants in alten Zugwagons oder in gestapelten Containern. Wir sind mit unserer Auswahl zufrieden. Meine Kürbis Falaffeln schmecken sehr gut!

Bild 1 bis 3: Marktszenen

Bild 4 bis 7: Telliskivi Restaurant, Plakate kleben, Stillleben Gläser, Fabrikfassade

Bild 8: Bahnhof Balti Jaam Tallinn