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Fischbojen am Kai in Mersrags

Fischbojen am Kai in Mersrags

Der kurze Seetörn nach Mersrags startet gemächlich und endet bissig, den der Wind frischt auf. Erstmalig werden wir mit den örtlichen Fischernetzen konfrontiert, die für Segler eine Barriere sein können, da sie hier direkt an der Oberfläche treiben.  Die schwarzen Markierungsfähnchen sind vor dem bedeckten Himmel schwer auszumachen und wir müssen konzentriert die Hindernisse umfahren. Das Erste was wir von Mersrags wahr nehmen,  als wir einlaufen, ist der intensive Holzgeruch, der von Bergen gemahlenem Sägemehl und riesigen Holzstapeln ausgeht, die am Kai lagern und dort auf die Verschiffung warten. Ein Frachter wird grade per Kran mit der holzigen Fracht beladen. Es riecht wie bei einem Sauna Aufguss.

Wir sind positiv überrascht. Der Hafen wirkt auf den ersten Blick moderner als der letzte. Schnell ist der Yachtsteg gefunden und wir haben festgemacht. Ein kleiner Werftbetrieb restauriert Holzsegelboote und baut einen alten Fischkutter wieder auf. Arbeiter laufen herum, nehmen aber keine Notiz von uns. Auch dieser Hafen liegt an einer Flussmündung. Die Wasserfarbe ist braun-rot. Netze mit grossen Schwimmkörpern liegen am Ufer. Nun können wir unsere Widersacher näher in Augenschein nehmen. Bei einer ersten Inspektionsrunde durch das Dorf, fühlen wir uns wie durch eine Zeitmaschine in eine vergangene Zeit geschleudert. Neben traditionellen Holzhäusern, die vor geschätzten 40 Jahren das letzte Mal einen Anstrich erhalten haben, gibt es dreigeschossige schäbige Wohnblöcke. An der Aussenseite steigen jede Menge Rohre nach oben. Zwischen den Häusern liegen überall grosse Holzstapel herum. Hier wird noch mit Holz geheizt. Der Gesamteindruck ist mit einem Wort umschrieben: ARMUT.

Später erfahren wir, dass in Lettland 30% der Bevölkerung russischen Ursprungs sind. Diese Gruppe hätte aber heute nichts zu lachen und krebst am Existenzminimum. Sie bekommen fast nirgendwo Arbeit und werden von den Letten getriezt als Retourkutsche für die Represalien die das lettische Volk unter der Sowjetherrschaft erleiden musste. Ausser der Landstrasse, die durch den Ort führt,  sind die Strassen nicht befestigt. Einzelne Gestalten schleichen zwischen den Häusern herum. Kinder und Alte vornehmlich. Ihre Kleidung ist noch unter dem Niveau unserer Altkleidersammlung. Ein Alter sitzt vor seinem Haus mit Ziehbrunnen. Die Kafenica zum Essen gehen, die von der Hafenmeisterin, die sehr gut deutsch spricht (lernt man hier in der Schule) empfohlen wurde, ist eine heruntergekommene, düstere, verschlossene Hütte. Laster mit Anhängern, vollbeladen mit Holzstämmen, brausen über die Landstrasse durch den Ort. Das kulturelle Leben spielt sich zwischen einer im Wald liegenden Freilichtbühne, zwei Holzkirchen, davon eine evangelisch-lutherisch, eine baptistisch und zwei Supermärkten ab. Ausser uns sind hier absolut keine Touristen. Wir fallen auf mit unseren farbenfrohen Wetterjacken und den Rucksäcken. Verschlissene, ausgebeulte gräulich-schwarze Jogginghosen und Trainingsjacken wären jetzt eine gute Alternative, um hier im Ortsbild unauffälliger zu bleiben. So bleibt meine Kamera auch meist unter der Jacke, denn wir wollen nicht aufdringlich sein und niemanden reizen, obwohl es unendlich viele pittoreske Motive gegeben hätte. Am nächsten Tag wandern wir zum Leuchtturm und Kap. Die Luft ist erfüllt vom Vogelgezwitscher und dem Duft der Fliederbüsche, die von weiss über zartrosa bis zu tiefem brombeer-rot in voller Blüte stehen. Die Stämme von Linden, Birken und Kiefern  sind über und über mit Flechten bedeckt. Ein Indikator für saubere Luft. Wir entdecken Erdkeller, grosse Anwesen im Wald und in erster Meereslage, verfallene Holzhäuser, Babuschkas mit Kopftuch und Schürze wie aus dem Bilderbuch in Gemüsegärten, hagere Männer mit gestählten, freien,  verschwitzten Oberkörpern in derber Wollhose und Gummistiefeln beim Holzhacken, Greise mit Rauschbart und prallem Bauch beim Sensen. An die bellenden Wachhunde haben wir uns schon gewöhnt.  Die Sonne brennt heiss vom Himmel. Am Ausflugziel steht bereits ein französisches Wohnmobil. Aha, also doch nicht geträumt,  wir sind im Jahr 2017. Der eiserne Leuchtturm wurde 1875 bei der Firma Sotera Lemoniert & Co in Paris gebaut. Bei einem Picknick geniessen wir den Blick über den weissen Sandstrand und die Bucht. Möwen streiten sich in der Luft zetternd um einen Fisch. Dies lässt einen stolzen Reiher, der wie verharrt auf einem Stein im Wasser steht, kalt.

Am Abend gibt es Besuch an Bord. Jakob aus Braunschweig ist mit seinem 7 Meter langen Stahlboot Festlieger hier im Hafen. Erfahrungsaustausch mit Ortskundigen ist immer wertvoll. Doch zunächst erfahren wir von seinem Leben. Seit 30 Jahren segelt er und möchte noch nach Haparanda an das Nordende des Bottnischen Meerbusens. Dies bleibt vorerst ein Traum, ist er doch gesundheitlich angeschlagen. Doch  er segelt weiter – einhand. Er will es so. Per Fernreisebus startet er zum Saisonbeginn und erreicht mit an die 100 kg Gepäck nach 28 Stunden Riga. Nach einer Zwischenübernachtung im Hostel für EUR 8,- wie er uns berichtet, geht es per Bus weiter hierher. Er fühlt sich hier seit 4 Jahren ohne viel Luxus wohl. Ist es taff oder leichtsinnig wie er das Leben hier meistert? Nach einem langen Abend und einiges an neuem Seemannsgarn helfen wir ihm von Bord und über den Steg, denn dieser tanzt mittlerweile wild hin und her. Ein aufgepiekter  Ost-Wind trägt einen unangenehmen Schwell in die nach Osten völlig offene Hafeneinfahrt. Wir bringen zusätzliche Festmacher mit Kettenvorläufern und Ruckfendern aus. Mittlerweise haben wir einen neuen Nachbarlieger auf die Luvseite unseres Steges bekommen. Es ist eine Amel, Ketch wie wir, unter englischer Flagge. Der Skipper kommt von der Isle of Man. Die ansonsten verwegen aussehende Herrencrew möchte auf dem schnellsten Weg nach Riga. Die Nacht wird unruhig. Es ist ein Konzert aus Klirren, Klappern, Ratschen, Quietschen, Knatschen. Mein nächtlicher Traum mündet in einem Bild wo wir gemeinsam mit der Amel wie ein grosser Katamaran verbunden durch den Steg in der Mitte durch das Hafenbecken kreisen. Angeregt zu diesem Szenario sicher durch die warnenden Worte der Hafenmeisterin: „ Hier liegt man bei Ostwind nicht gut“ und die Geschichte Jakobs, dass er ebenfalls an diesem Steg einmal gelegen hat und in einem Sturm mit Windstärke acht ist er samt Steg verdriftet, da dieser sich losgerissen hat.  Die Wellen hätten das Schiff gegen einen Eisenponton gedrückt. Es sei eine schwere Nacht gewesen.

Mit Erleichterung stelle ich am Morgen fest, dass sich Steg und Schiffe noch an Ort und Stelle befinden. Aber der Steg knallt rauf und runter fast bis zur halben Bordwandhöhe. Augenscheinlich sind wir auch dem Eisenponton ein Stück näher gekommen. Nachdem die britische Amel abgelegt hat, erscheint ein junger Mann auf dem Steg. Er ist das perfekte Abbild eines Piraten aus dem Film „Pirates oft the Carribian“. Schwarzes Kopftuch mit weissem Ankermotiv am Hinterkopf verknotet. Braungebrannt mit scharf geschnittenem Gesicht, stahlgrauen Augen, Haarzopf, schwarzer Lederjacke, schwarzes T-Shirt mit weissem Ankermuster, Lederarmbänder und verschiedene silbernfarbene Ringe an den Fingern, dabei ein Totenkopfring. In gebrochenem Englisch aber mit bestimmtem Ton gibt er Anweisung, dass wir uns an die gegenüberliegende Spundwand hinter das Schiff „Palsa“ verholen sollen. Der Tiefgang dort würde für uns reichen. Wir vermuten in ihm den Inhaber des Werftbetriebes. Er würde uns drüben erwarten und beim Anlegen helfen. Schnell kommen wir in die Gänge und das schwierige Ablegemanöver beginnt. Im ersten Schritt verholen wir per Leinen an die hintere Ecke, des nun wild tanzenden Steges. Im entscheidenden Moment ziehen wir die Leinen eine nach er anderen ein und Axel manövriert uns mit Bravour aus dieser schwierigen Lage. Das Bugstrahlruder jault  und wirbelt das braune Wasser auf. Haarscharf gleiten wir an der letzten Kante des Steges vorbei. Unser Pirat empfängt uns am anderen Ufer. Später erfahren wir, dass er Inger heisst und an Bord der Palsa, einem alten Fahrgastschiff von 1930 für Touristenausfahrten, arbeitet. Nicht auszumalen was hätte passieren können, wenn die Wellen weiter angestiegen und das Schiff am abgerissenen Steg durch den Hafen getrieben wäre. Unser neuer Platz ist zwar auch nicht deutlich komfortabel aber sicher.