Rügen

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„Da vorne treibt etwas im Wasser“ melde ich dem Skipper. Die See ist kaum bewegt, nur ein leichter Wellengang. Das unbekannte Objekt ist leuchtend neongelb.

Der Skipper wendet Astarte und wir nehmen Kurs auf den treibenden Farbklecks. Durch das Fernglas kann ich mittlerweile erkennen, dass es eine Segeljacke ist. Aber es ist kein Kopf zu sehen. Axel zu mir: „ Was machen wir, wenn da einer unten dran hängt?“ Ich antworte: „ Den müssen wir rausholen, so oder so.“  Zig Gedanken schiessen mir gleichzeitig durch den Kopf. Wie ist die richtige Reihenfolge? Den Mann erst sichern, dann Funkspruch absetzen oder umgekehrt? Wie bekommen wir die Person an Bord gehievt, denn einen anscheinend leblosen Körper, die Klamotten voll mit Wasser, ist extrem schwer und unhandlich. Wird sich unsere spezielle Rettungsschlinge eignen? Ein unterkühlter Mensch, der länger im Wasser trieb, darf möglichst nicht vertikal aus dem Wasser gezogen werden, damit das kalte Blut aus den Extremitäten nicht zum Rumpf und Herzen fliesst und dort einen Schock auslöst. Im Geiste gehe ich die im erste Hilfe- und Segelkurs erlernten Kenntnisse durch. Nun sind wir nah genug an der Jacke, die auf der Oberfläche liegt wie hingeworfen mit ausgebreiteten Armen und erkennen, dass es zum Glück nur ein leeres Oberbekleidungsstück ist. Die schwere Arbeitsjacke mit Reflextionsstreifen stammt vermutlich von einem Vorsorgungsschiff des nahegelegenen Windparks und wurde bei schneller Fahrt davongeweht, als man sie achtlos an Deck vergessen hat. Wir sind froh unseren alten Kurs wieder aufnehmen zu können und dass kein Mensch in Seenot geraten ist.

Die Überfahrt von Bornholm nach Rügen verläuft ohne weitere Ereignisse. Heute muss nahezu den ganzen Tag der Motor für Vortrieb sorgen, mangels Wind. Doch wir konnten nicht länger auf ein geeignetes Wetterfenster warten, da unsere Pakete in Greifswald beim Hafenmeister eingehen und wir auch noch Arzttermine vereinbart haben.

Unser erster Anlaufhafen Sassnitz auf Rügen hat sich gegenüber unserem letzten Besuch vor 5 Jahren nicht verändert. Wir finden eine geeignete Box im halb vollen Hafen. Die Nacht wird unruhig, da starker Schwell aus Ost in den Hafen steht. Astarte schaukelt wie ein Metronom. Während der Skipper die Ruhe des Gerechten geniesst, wälze ich mich hin und her und kann bei der Schaukelei nicht schlafen.

Am nächsten Morgen geht es noch schnell zum Netto einkaufen. Bereits um 8.00 Uhr morgens herrscht Hochbetrieb. An der Kasse kommandiert eine kurzhaarige Blonde: „Wagen drehen und näher ran „ und Sie da hinten „ alle Waren auf´s Band“. Die Dame ist geübt im Multitasking. Während sie die Produkte über den Scanner schiebt, bekommt jeder in der Schlange sein Fett weg. Zwischendurch wird Geld für den Einkaufswagen gewechselt, ein Herr abgefertigt, der nur einen Sack Blumenerde von draussen bezahlen will und so fort. Die Frau ist ein wirkliches Original, das seinen berechtigten Platz in einer Vorabendserie einnehmen könnte. Sie schnackt burschikos aber auf eine schalkige, nette Art und lockert damit das Einkaufserlebnis auf.

Draussen wartet Axel und bekommt den schwereren Rucksack auf den Rücken. Mit drei Rucksäcken bepackt geht es zurück. Wir entdecken ein Sanitätsgeschäft und spontan komme ich auf die Idee nach einer Bandage zu fragen womit sich Axels Fusschmerzen evt. lindern lassen. Die Verkäuferin nimmt sich sehr viel Zeit für den Fall. Berät umfassend und kompetent und schult uns beide noch in speziellen Gymnastikübungen. So ist auch dieses Projekt fürs Erste abgehakt und es wird sich herausstellen, ob die Wirkung der Bandage wirklich einsetzt.

Sassnitz Pier

Mittlerweile ist später vormittag als wir die Leinen lösen, um uns zum Pier zu verholen an dem die Wasserschläuche montiert sind. Etwas umständlich gelöst hier in Sassnitz, denn das luvseitig Festmachen an einer hohen Pier  mit massiven Eisenpollern, die vorstehen, erfordert wieder viel Aufwand mit quergelegten Fendern und Allerlei Gehampel, bis auch diese Aktion erfolgreich über die Bühne gebracht ist.

Endlich kommen wir los und mit einer schönen Segelbrise, Sonnenschein und der Aussicht auf die Küstenlinie von Rügen gleitet Astarte über die Ostsee.

Der Törn um die Halbinsel Mönchsgut, den südostlichen Teil von Rügen, zieht sich hin, da Flachs zu umfahren sind und mit Kreuzschlägen arbeiten wir uns gegen den drehenden und mittlerweile frischen Wind voran. Vorbei geht es am Thiessower Haken, Steuerbord bleiben der Zicker See und die Hagensche Wiek liegen, bis wir später in den Having und die Reddevitzer Höft einbiegen.

Am Abend fällt der Anker vor Seedorf in diesem Seitenarm des Greifswalder Boddens, der sehr guten Schutz vor allen Windrichtungen bietet. Mittlerweile kachelt der Wind böig über das Vorschiff, der schwarze Ankerball aus Plastik tanzt wild an seinen Schnüren und ansonsten herrscht bis auf  den Wind, Möwengeschrei und die vereinzelten guturalen Laute von Kormoranen, angenehme Stille. In Ruhe geniesse ich die verschiedenen Ufersichten, die sich wechselnd ergeben, je nachdem wie sich das Schiff zum Wind legt bis die Abendfeuchte sich niedersenkt und es im Cockpit zu ungemütlich werden lässt.

Hafen Seedorf

Es ist Samstag und wir tuckern in einen noch schmaleren Seitenarm zum Hafen Seedorf. Links und rechts des Wasserarmes sind verschiedene Vereinshäfen mit ihren Liegeplätzen. Wir kommen am Forellensteg unter. Zwei Plätze neben uns entdecke ich Platz Nr 8 auf rot (besetzt) gedreht. Ich meine zu Axel: „ Du der Platz ist von Ruby Tuesday reserviert. Sie haben geschrieben, dass sie nach Seedorf kommen wollen und vorher reserviert haben. Aber schau mal, da würden sie ja gar nicht reinpassen, viel zu eng für ihr Boot. Der Platz ist höchsten zwei Meter breit. Ich frage mich bei der Länge wer da festmachen soll. Ich werde sie warnen, denn Seedorf ist beliebt und der Hafen wird bald voll sein.“

Später telefoniere ich mit Robin. Er ist verwundert und meint, dann wäre es wohl eine andere Nummer acht in einem anderen Hafen. Am frühen Abend, kommen die beiden an und tatsächlich kommen sie am gebuchten Platz im Nachbarverein unter. Da habe ich für Verwirrung gesorgt und auch den Hafenmeister vom Forellensteg schon beauftragt, einen geeigneten Platz für die Ruby Tuesday zu finden, den er dann auch organsiert hatte. Nach der Verwechselungskommödie klönen wir lange gemeinsam im geräumigen und schön eingehausten Cockpit mit Brigitte und Robin. Viel hat sich ereignet in der Weltpolitik seid unserem letzten Treffen im Kattegat letztes Jahr. Bevor beide Crews wieder in See stechen, wollen alle jedoch zunächst die angenehmen Sommertage im idyllischen Seedorf geniessen und das Mönchsgut Umland erkunden.

Seebrücke Sellin

Über teilweise Kopfsteinpflaster und durch die für Rügen typischen Baumalleen geht es nach Sellin. Das an einem Steilhang gelegene Seebad ist im „Full holiday swing“. Schade nur, dass in Mitten des Küstenortes eine Grossbaustelle lärmt und staubt. Das riesige Erdloch mit Baukran wirkt wie eine offene Wunde. Wenige alte leerstehende Holzvillen stehen nutzlos herum und Investoren ist wohl eine aufwendige Sanierung nach Denkmalschutzvorgaben nicht gewinnbringend genug.

Stattdessen werden in  letzte Lücken mehrstöckige weisse, sterile Appartmentblocks gesetzt. Vorbei am Binnenhafen von Sellin wo das Hafenbüro mit Küche und Lounge für den Hafenmeister mondäner ausgefallen ist wie mancher Feriensitz, geht es nach Moritzdorf. Hier hat sich eine alte Tradition erhalten.

Fähre Kai Uwe bei Moritzdorf

Mit Muskelkraft rudert ein Fährmann in Begleitung seines Terriers die Wanderer, Spaziergänger und Fahrradtouristen von einer Seite zur andern über die Zufahrt zum Selliner Binnensee. Der Mann hat gut zu tun. Hüben wie drüber sammeln sich die Fährgäste.

Über einen Bergrücken strampeln wir gegen warmen Wind unter den heissen Strahlen der Nachmittagssonne Seedorf entgegen.

Für den Hafenmeister von Seedorf und seine Kumpels ist der Steg seine zweite Terasse. Bis spät am Abend wird Bier getrunken und zusammengehockt, während sich die beiden grossen Schäferhunde einer weiss, einer dunkel, auf den Brettern räkeln.

„Der Schlüssel für den Toilettencontainer findet ihr am Häuschen“. Das kleine auf den Steg gebaute weisse Gartenhäuschen ist sein Büro. Am Morgen drücke ich die Klinke. Sofort springen innen die Hunde auf und preschen gegen die Tür. Erschrocken fahre ich zurück. Glücklicherweise entdecke ich später, dass die Schlüssel unter dem Dach aussen baumeln. Vor Hunden habe ich Respekt. Mein Onkel hatte den Schäferhund Alf. Eigentlich ein liebes Tier, aber er hat gebissen und das kam so:  Ein Freund sollte Alf während der Urlaubsabwesenheit das Futter hinstellen. Der Mann machte den Fehler die Schale nochmal wegzuziehen, während der Hund frass, da hat Alf ihn am Handgelenk erwischt. Der Mann trug seitdem ein Lederband um das Handgelenk und Alf wurde eingeschläfert. Eine Erinnerung aus frühen Kindertagen.

Am nächsten Vormittag bläst der Westwind bereits bissig über die grünen Felder. Die roten Mohnblütenköpfe an den Feldrainen werden zusammengedrückt und flattern um die Wette. Kornblumen und Kamille ergänzen das sommerliche Bild. Zwei schwere Kaltblüter grasen, ohne die Köpfe zu heben, unentwegt am Boden. Der Turm des Jagdschlosses Granitz lugt aus dem in der Ferne liegenden Laubwald. Vom Stegnachbarn erhalten wir Tipps für die Route und über die Fussgängerbrücke geht es durch das kleine Dorf Preetz, durch Lanken-Granitz Richtung Schloss. Bald queren wir die Bahngleise des historischen Dampfzuges Rasender Roland, dessen Schnauben und Tröten mehrmals als Tag weittragend zu hören ist.

Rasender Roland

Am Waldrand hat das Tourismusmarketing die Natur mit Erlebniszirkus aufgemotzt, um den reizüberfluteten Städter bei Laune zu halten. Der Besucher möge seine Sinne schärfen. Zunächst gibt es einen Barfusszirkel mit ausgelegten Felsbrocken und Kies. Eine Frau gibt sich die Folter barfuss über die heissen Steine zu laufen, denn die Sonne knallt und hat das Gestein aufgeheizt. Ihr Mann behält sicherheitshalber seine Sportschuhe an. Nächste Station die Hörrohre. Blechtrichter mit Anweisung in den Wald „hineinzuhören“. Dann aufgestellte Rahmen, den Wald zu „ sehen“. Wir schieben die Räder, es geht recht steil bergauf über eine steinige Route. Eine kleine Ruhepause kommt gelegen auf einem Waldsofa.

Dann ist das Jagdschloss erreicht und die Ruhe des Waldes hinter uns. Restaurant, Kiosk für Grillwurst und Eis. Erschöpft lassen sich die Ausflügler fallen, entweder in die Gastronomie oder auf eine Bank oder einen Holzbalken.

Jagdschloss Granitz

Zwei Wölfe aus Bronze bewachen den Eingang zur Jagdresidenz. Der Blick ist wild und die aufgerissenen Mäuler legen scharfe Zähne frei. Das rose-beige farbene Gebäudeensemble mit fünf runden Türmen, deren obere Enden mit quadratischen Auszackungen eingefasst sind, geben dem Lustschloss einen lieblichen Charakter. Axel hat sowieso keine Lust zu einer Besichtigung. Ich werfe einen Blick in die Eingangshalle und sehe, dass er recht hat. Auf der Empore schieben sich schon die Menschenassen entlang. Argwöhnisch beäugt mich der Wachmann, für den ich wohl einen Moment zu lange herum schaue. Pro forma greife ich nach einer Broschüre. Die Augen eines präparierten Wildschweinkopfes scheinen mich zu fixieren. Merkwürdig, denke ich, das Wildschein lacht. Hat der Präparator in seine Trickkiste gegriffen, um dem Tier dieses Grinsen aufzusetzen? Wie schade, viel lieber hätte ich dieses Lebewesen in freier Natur lebend gesehen, als diesen abgetrennten Kopf von oben herunter grinsen zu sehen. Die Jagd im Allgemeinen soll ihren Sinn haben, aber mir bleiben Zweifel und so wende ich mich schnell ab und schliesse zu Axel auf, der draussen wartet.

Im Wald verfransen wir uns ein wenig und landen schliesslich über die steile Abfahrt auf einer im Bau befindlichen gesperrten Strasse, die wir trotzdem nehmen müssen. Vorbei am Bahnhof für den Rasenden Roland geht es nach Binz. Der Zug fährt dampfend ein und das auch hier gültige Neun Euro Ticket hat die Massen in Bewegung gesetzt. Rappelvoll ist noch untertrieben. Die Menschen hängen an den Aufgängen aussen dran. Alle ohne Masken und einige grölend mit Bierflaschen in der Hand. Hier können wir nur schnellstens Reissaus nehmen, als sich die Schar über Bahnhof und Gehwege ergiesst. Auch in Binz ist der Rummel gross.

Menschen bevölkern Strand, Gastronomie und die Fussgängerzone. Ein Auto hinter dem anderen stockt auf der Landstrasse. Am Schmucker See finden wir endlich einen einigermassen „leeren Bereich“ um leckere Antipastiplatten, die ich schnell aus dem Lidl geholt habe, zu geniessen.

Im weiten Bogen geht es zurück nach Seedorf. Mittlerweile quält mich der Heuschnupfen, Augen jucken und die Nase läuft. Wie gut, dass die FFP2 Maske auch gegen Heuschnupfen ideal wirkt und mir die Rückfahrt durch die pollengeschwängerte Luft ermöglicht.

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1 Comment

  1. Nice description and photos. Good to see you both in Seedorf, and have some nice chats. I know how you feel about the animal heads – different times and different values.

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