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Augerum Kirche

Während der Skipper auf dem Vordeck an seinem Bike arbeitet und den neuen Reifenmantel auf die Felge aufzieht, nähert sich auf dem Steg schwankend ein weisshaariger etwas verwegen wirkender Mann. Wie sich herausstellt ist er der Eigner vom Grand Banks Trawler gegenüber, der berichtet: „ Have you been on board yesterday afternoon when your neighbour arrived?

He hit you badly, when he moored“. Mein Skipper tippt an sein Cap und bedankt sich. Gleich schaue ich an Backbord achtern nach und finde einen tiefen Kratzer in der Holzleiste des Süllrands. Beim Verursacher ist niemand an Bord und es hat keinen Zweck, eine grosse Sache aus dem Vorfall zu machen. Lässt sich wegschmirgeln. Aber faire Seemannschaft sieht anders aus. Überall wird es zunehmend voller, so auch auf dem Wasser und das Klientel ist leider oftmals nicht mehr von der alten Schule.

Wir schlucken den Ärger herunter und machen uns Luft indem wir uns auf den Rädern auspowern. Die Kraft ist von Nöten, denn unser heutiger Ausflug verlangt einige Anstiege. Vorbei an der Seefahrtschule, dem Küstenverlauf folgend, biegen wir beim Wärmöparken, einem Landschaftspark mit hohen alten Eichen und Picknickplätzen ins Landesinnere. Seid einigen Tagen habe ich mir schon in den Kopf gesetzt, unbedingt nach Augerum zu kommen. Eine verrückte Idee, denn mit der Annahme dort auf eine ehemalige römische Siedlung, vielleicht eine interessante Ausgrabungsstätte zu stossen, liege ich komplett falsch. Augerum ist der Genitiv von auger was auf Latein soviel bedeutet wie Person, die das Verhalten der Vögel interpretiert oder auch Prophet, Seher, Wahrsager.

Augerum ist noch nicht einmal ein Dorf. Nachdem wir vorbei an Felder, durch Wald und Siedlungen endlich in Augerum ankommen, ist dort ein grosses Holzhaus an einer Brücke, die die befahrene Landstrasse über einen kleinen Bach führt und eine Kirche. Das Holzhaus ist ein Messiehaus. Trödel, Müll und ausrangierte Vehikel stapeln sich um das Haus. Die weiss getünchte Kirche mit Steinsockel, Friedhof und Grünanlagen hingegen wirken sehr gepflegt. „Lass mal dort rauf und die Kirche ansehen“ sage ich matt, um die Enttäuschung, dass hier eigentlich Niemandsland ist, zu überspielen. Wir schieben die Räder durch den weissen Kies steil bergauf. Ein schneller Blick ins Kircheninnere: schlicht wie im Norden meist üblich.

Auffällig sind zwei Grabstellen unter runden Erdhügeln. Auf einer Steinplatte steht in goldenen Lettern af Chapman. Innerlich bin ich zufrieden, zufällig die letzte Ruhestätte des Fredrik Henrik Chapman gefunden zu haben.

Wer Chapman war?

Neben Schiffbauer, Wissenschaftler, Offizier der Schwedischen Marine, zuletzt im Rang eines Vizeadmirals, war der im 1721 im schwedischen Göteborg geborene Chapman ein Visionär der seiner Zeit weit voraus war und als der erste Schiffsbauarchitekt und Schiffs-Konstrukteur weltweit angesehen werden kann. Als erster Schiffbauer in Nordeuropa führte Chapman die Serienproduktion ein und verfasste Werke zur Anleitung zum Schiffbau die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhten.

Fredrik Henrik Chapman wuchs in der Nähe der königlichen Docks in Göteborg auf.

Der Sohn von Thomas Chapman, einem englischen Marineoffizier, der nach Schweden übersiedelte und dort in die schwedische Marine eintrat und Susanna Colson, der Tochter des Londoner Schiffbauers William Colson, fuhr als 15 jähriger zur See und arbeitet in privaten und staatlichen Werften. Seinen Erfahrungsschatz konnte er in Spanien und England erweitern, bevor er in Göteborg mit einem Partner eine eigene Werft gründete.

Bald bemerkte der junge schwedische Bootsbauer, dass er zwar handwerklich geschliffen war, es ihm aber an detaillierterem, mathematischem Wissen fehlte. Er verkaufte seinen Werftanteil und studierte in Stockholm, London, Woolwich, Chatham und Deptford. Aufenthalte in den Niederlanden und Frankreich, Brest, folgten. Admiralitäten in Frankreich und England buhlten um ihm und offerierten lukrative Stellenangebote. Chapman hatte mittlerweile führende Werke publiziert, die ihm Anerkennung in der Fachwelt verschafften. Mit 36 Jahren trat er in die Dienste der königlichen Schiffswerft in Karlskrona ein und begann seinen Aufstieg bis zum engen Vertrauten und Ratgeber König Gustav III.

Chapman unternahm ausgedehnte Reisen im Bottnischen Meerbusen zur Holzinspektion als Bootsbauresource, designte verschiedenste Archipelago-Fregatten udema, pojama, turuma und hemmema, die er nach schwedischen Provinzen benannte, sich dabei aber der finnischen Sprache bediente. Er entwickelte völlig neue Kontruktionsmethoden, überwachte und leitete den Bau von Schiffsflotten, Docks, Gebäuden, Kränen. Selbst um die Weiterentwicklung einer Sägemühle vom Austausch des Prinzips der Zahnsäge zu einem Kreissägenblatt kümmerte er sich. Er führe ein, dass Schiffe im Winter in überdachten Schuppen untergebracht wurden, um die Lebenszeit und Nutzungsdauer der Schiffe zu verlängern.

Wie unglaublich fortschrittlich Chapman bereits im 18. Jhdt. die Schiffbauentwickung voran brachte, zeigt sich auch in seinem Vorhaben seine mathematischen Theorien an Hand von Schiffsmodellen im kleineren Masstab in einem 100 Meter langen Wasserbecken zu testen, indem man sie durchs Wasser zog. Strömungsverhalten, Stabilität und andere Hydrodynamische Fakten werden heute nicht viel anders untersucht.

Der Hochphase der Chapman Ära fällt zusammen mit der Machtübernahme König Gustavs III im Jahr 1771. Grundlage für den massiven Ausbau der schwedischen Kriegsflotte war eine Verschiebung der militärischen Balance im Baltischen Raum.

Mit Blick auf die aktuellen Ereignisse rückt die reale Bedrohung durch agressive Expansionspolitik des Kreml heute wieder in das Bewusstsein der Menschen im Ostseeraum vom Baltikum bis nach Skandinavien. Finnland und Schweden bewerben sich um Aufnahme in die Nato. Militärübungen der westlichen Staaten im Ostseeraum und Säbelrasseln der Russen im Seeraum ihrer Enklave Kalinigrad verheissen nur eines sicher: wir steuern auf eine ungewisse Zukunft zu. Es bleibt nur die Hoffnung auf die Vernunft der Machtinhaber Europa zu befrieden.

Was geschah damals?

Russland erweiterte seine Grenzen Richtung des Finnischen Meerbusens in der Ostsee und etablierte die zukünftige Kapitale Sankt Petersburg und den Marinestützpunkt Kronstadt. 1748 begann Schweden mit dem Bau der Sveaborg Festung vor Helsinki, um die Ostfront zu sichern. Die schwedische Flotte wurde reorganisiert und auf zwei Basen verteilt, Karlskrona und die Archipelago Flotte mit Häfen in Stockholm und Sveaborg. Durch die Allianz Gustavs mit Frankreichs Monarchen Louis XV bildete sich schnell der gemeinsame Feind Russland heraus. Gustav bewunderte den Sonnenkönig Louis XIV (1638-1715) und sah die absolute Monarchie und Selbstbewunderung als Vorbild.

Der König protegierte Chapman, adelte ihn, daher  „af“ Chapman, da Gustav III durch Chapmans Ideenreichtum, Organisationstalent und Effizienssteigerung im königlichen Werftbetrieb enorm profitierte. Die Kriegsflotte mit 60 bis 70 Kanonenbestückten Kriegsschiffen wurde stark ausgebaut sowie deren Unterhalt und Lebensdauer durch Docks und Winterlagerung an Land verbessert. Statt für ein Schiff mehrere Jahre zu benötigen, entstanden unter Chapmans Leitung in drei Jahren zehn Vollschiffe und zehn Fregatten.

Mit 60 Jahren wurde Chapman zum Admiral Superintendent ernannt.

Der schottische Bankier Patrick Miller versuchte mit Plänen für ein viermastiges plus Besan Super Kriegsschiff in ganz Europa Interessenten zu werben. Nur Schweden zeigte ansatzweise Interesse, doch die „Experiment of Leith“ wurde nie realisiert. König Gustav III holte Chapmans Meinung zu dem Plan ein und Chapman nannte es Sea Spook.  Zum Dank für die Übersendung der Pläne, schickte der König an Miller eine Schnupftabakdose mit Marinemotiven verziert und gefüllt mit  Rutabaga Samen.  Was ist Rutabaga? Eine Kreuzung aus Kohl und Rettich.

Rutabaga haben wir nicht in unseren Packtaschen, aber die Karotten und unsere Käsebrote sind auch ganz lecker. Wir geniessen die Ruhe und lassen die Eindrücke einsinken, bevor wir uns auf den Rückweg machen.

Wieder einmal geht ein ausgefüllter Tag zu Ende, der uns auch sportlich gefordert hat. Hätten wir nicht den Ausflug nach Augerum gemacht und ich das Grab von Chapman entdeckt, dann hätte ich mich nicht mit seiner ausgesprochen vielseitigen und aussergewöhnlichen Biographie beschäftigt und nie etwas von Rutabaga gehört. Auch habe ich das Rätsel um den Namenszusatz „af“ lösen können.