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Wir starten erst gegen Mittag, da die Insel Borstö am Morgen von Nebel umgeben ist. Die Luftfeuchte im Schiff beträgt 77 Prozent. Es ist immer noch sehr diesig und kein Lüftchen bewegt sich. Die Luft ist schwül.
Es ist ja nur ein kurzer Törn zur nächsten Insel Jurmo. Durch eine enge Passage vorbei an Felsplateaus geht es unter Maschine im Zickzack Richtung Hauptfahrwasser. Das Meer ist spiegelglatt. Himmel und Wasser verschmelzen zu einer milchiggrauen Einheit. Der Übergang lässt sich nur erahnen. Die Schäreninseln heben sich als dunkelgraue Striche von der Umgebung ab.
Um 14.00 Uhr treffen wir auf Jurmo ein und steuern den Hafen an. Durch das Fernglas erspähen wir schon den Mastenwald und unser Mut sinkt. Tatsächlich ist der Hafen übervoll. Sogar an Bootshäusern liegen Boote ohne Landzugang. Jede erdenkliche Lücke ist gefüllt. Ja wir haben Hochsaison. Wer einen Platz ergattert hat schaut selbstgefällig zu den hilflos kreisenden Neuankömmlingen herüber.

Morgenstimmung in Utö

Morgenstimmung in Utö

Selbst am Fähranleger liegt eine grosse Bavaria. Der Eigner gestattet uns festzumachen, aber er informiert uns, dass das Vergnügen nur von kurzer Dauer ist, denn um 17.00 Uhr kommt die Fähre und dann müsste man weg sein. Daher entscheiden wir uns für die Weiterfahrt. Noch ist die Wetterlage ruhig und erlaubt ein Erkunden dieser entlegenen Inselgruppe, denn bei Starkwind findet eine Yacht hier kaum geschützte Ankerplätze.
Die entfernteste Insel im Archipel ist Utö. Nur 22 Seemeilen südlich dieser Insel liegt das Wrack der Estonia auf dem Meeresgrund. Über diese Tragödie hatte ich im Teil Estland Hiiuma einen kurzer Rückblick gegeben.
Utö dient für Küstenwache und Militär seid langem als Stützpunkt. Eine Lotsenstation entsendet Lotsen, die die Frachtschiffen sicher durch die heiklen Passagen steuern. Die Radarstation am höchsten Punkt der Insel neben einem historischen Leuchtturm, der sogar ein Kirchenzimmer enthält, überwacht den Schiffsverkehr.
Am Nachmittag laufen wir in den Sund zwischen den Inseln Utö und Ormskär ein. Richtung Hafen fahren wir erst gar nicht. Ein Blick mit dem Fernglas zeigt uns sofort, dass auch hier alles belegt ist. Viele Plätze sind vom Tiefgang auch nicht ausreichend für uns. Nach 30 Seemeilen fällt der Anker auf fünf Metern Wassertiefe. Den Grund kann man hier im Gegensatz zum Mittelmeer fast nirgendwo sehen. Das Wasser ist dunkel. So können sich auch Untiefen gut verbergen und genaues Navigieren ist hier ein absolutes Muss. Nach und nach trudeln auch Boote ein, die wir bereits zuvor gesehen hatten. Später trifft eine imposante 22 Meter lange historische Gaffelketch ein. Es ist ein Ausbildungsschiff für Seekadetten. Vom Cockpit aus wo wir relaxen können wir den Apell mit Trillerpfeife beobachten. Zum Essen wird per Glocke gerufen. Ob wir dieses Ritual auf Astarte wohl auch einführen sollten? Die Crew wässert ein Beiboot und ein Rudertraining in das wir als Wendemarke einbezogen werden beginnt. Die Azubis sollen gleichmässiges rudern lernen. Aller Anfang ist schwer. Noch lange hören wir die anfeuernden Rufe des Steuermannes: Haul Heeeeh, Haul Heeeh, Haul Heeh schallt seine Stimme laut über die Bucht in die Stille hinein. Die Riemen zerteilen das dunkle Wasser mehr oder weniger im Gleichtakt. Schliesslich sind die Mädchen an der Reihe und das Gekichere nimmt kein Ende. Der Vormann beschliesst die jungen Backfische lieber zum Sonnen auf den Felsen abzusetzen, statt sich weiter mit ihrer seemännischen Erziehung abzugeben.
Wir bauen das Dingi auf für die Inselerkundung. Um kurz vor sechs am Abend erleben wir ein Wetterphänomen, dass wir noch nie gesehen haben. Der Wolkenteppich wird innerhalb von Minuten wie von Geisterhand aufgerollt.

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Von See kommend hebt sich der graue Schleier und türmt sich zu einer Haube mit gerollter Krempe auf. Ein grosser Wulst liegt bogenförmig über uns. Zur Hälfte ist der Himmel noch grau und verhangen. Die andere Hälfte zeigt sich mit einem strahlenden ja gleissenden Blau und die Farben sind so klar wie frisch gestrichen. Schnell rudern wir herüber zur Insel, um zu fotografieren und die wenigen Pfade zu erkunden. Fähranleger, Wanderheim, Leuchtturm, Radarstation, Hotel, einige Häuser, die obligatorische Sauna, Krämerladen und eine Inselkirche bilden das Gemeindewesen von Utö. Wer als Tourist hier auf diesen Outpost kommt, der sucht das Besondere und findet es in den Aussichten. Jede kleine Erhebung bietet neue Perspektiven über die Wüste aus Wasser und Stein. Die Hitze drückt. In einem alten Tunnelgang einer ehemaligen Batterie verharre ich einige Minuten und geniesse die feuchte Kühle der alten Ziegelmauern, die ins Erdreich vor vielen Jahrzehnten von den Russen getrieben wurden. Teile Utös sind gesperrt und beherbergen heute noch Geschütze der finnischen Marine. Die Befestigungen wurden bereits unter russischem Regime angelegt. Hier ein rostiger LKW, dort ein verotteter Fischerkahn, Wind und Seewasser, im Winter Eis und Schnee zeigen ihre Spuren am Material und prägen das Leben und Gemüt der Insulaner. So heisst es hier, dass der steinige Boden keine Toten aufnehmen kann. Verstorbene müssen mit dem Boot zur Nachbarinsel Jurmo gebracht werden. In stürmischen Tagen sollte möglichst niemand versterben, da der Schiffsverkehr dann eingestellt ist.
Wir besichtigen die Inselkirche und ich entdecke Dankesschreiben des amerikanischen Botschafters von Helsinki mit folgendem Wortlaut:

“Excellency:
‘I have the honour to express to your Excellency my warm admiration for the heroic actions of the townspeople of Uto in the rescue of the crew of a sinking American vessel. On the night of December 24, 1947, when the American vessel, the SS Park Victory was wrecked in the seas outside of Uto, its people in their own small boats, and under peril to themselves immediately went to the rescue of the American seamen struggling in the icy waters while a snow storm raging upon the seas made such an operation extremly hazardous. Then, the same townspeople took into their homes for shelter and for nourishment the survivors of the shipwreck. I feel that high praise is due to these Finnish people for their courage and seamanship. Please accept, Exellency, the assurances of my highest consideration. His Excellency Carl Encknell, Minister for Foreign Affairs, Helsinki. American Legation Helsinki, January 2, 1948.”

Niemand sonst stört die Ruhe und Inspiration an diesem Ort. Den Altar dieser kleinen Kirche, die schlicht gehalten ist, bildet ein Fenster mit Aussicht auf die See. Hier wird der Spruch greifbar: Auf See bisst Du in Gottes Hand.
Irdische Anliegen haben zunächst Vorrang. Nach der inneren Einkehr meldet sich der Magen. Ich pflücke Himbeeren. Hier ist etwaige Luftverschmutzung weit weg und die Früchte sind ein wahrer Genuss. Umschwärmt von Wespen verteidige ich meine Ausbeute. Im Krämerladen reduziert sich unser Einkauf auf einen Liter Milch und zwei Eis am Stiel. Als wir zum Dingi zurücklaufen treffen wir auf ein Warnschild vor giftigen Fröschen. Wie seltsam auf dieser entlegenen Insel, denken wir. Grade als Axel das Dingi in Wasser schieben will, schwimmt an dieser Stelle eine ca 80 cm lange schwarze Schlange weg. Das Erfrischende Bad fällt für heute auf jeden Fall aus.

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