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Wir slippen die Leinen um 05.15 Uhr Ortszeit. Der Hafen schläft noch. Axel startet die Maschine, setzt rückwärts und langsam tuckern wir aus der Steganlage. Alles bleibt ruhig, wir haben niemanden aufgeschreckt. Das Schleusensignal einer Kammer steht auf grün. Dunkel und glitschig empfängt uns die Schleusenkammer mit ihren aufragenden Wänden.

Schnell sind wir wieder fest und warten. Nichts tut sich. Ein Funkspruch schallt durch die Stille. Krächzend ertönt es aus unserem Bordlautsprecher: „Good Morning, when is the next lock? I will slip lines in ten minutes.“ Die Antwort kommt prompt. Schleusung um 6.00 Uhr. Das gibt es doch nicht, denken wir, also war das frühe Aufstehen umsonst und wir liegen jetzt hier noch über eine halbe Stunde fest. Als ich grade meinem Unmut Luft mache, da bewegt sich etwas. Wasser strudelt und die Tore hinter uns schliessen sich langsam. Na endlich. Ungeduldig zerrt auch Astarte an den Leinen als wollte sie sagen: Jetzt will ich wieder auf See und habe das Hafenliegen satt. Vor uns öffnet sich ein Spalt. Wasser strömt ein und bald liegt der Weg frei. Bei grün geht es raus den neuen Abenteuern entgegen. Eine Mischung aus Vorfreude, Aufregung aber auch Wehmut lässt mich erschauern. Den Blick zurück  verbinde ich mit dem Gedanken: Werde ich England wiedersehen? Überhaupt jemals wiedersehen oder war es die letzte Reise. Bleiben wir gesund? Was wird die Zukunft bringen? Schnell wische ich eine kleine Träne weg, die sich ihren Weg gebahnt hat und meine aufgewühlte Gemütslage wiederspiegelt. Doch Zeit für Melancholie bleibt nicht. Fender wegräumen, Festmacher verstauen und die Schwimmwesten anlegen. Kaum aus dem Schutz der Molen fangen wir an zu schaukeln und Astarte holt von einer Seite zur anderen über. Jetzt aber fix die Segel hoch. Klar bei Manöver und das Schiff auf Kurs bringen.

Unser Plan ist Dieppe zu erreichen und uns dann an der französischen Küste nach Norden vorzuarbeiten. Die Stadt haben wir in angenehmer Erinnerung vor allem die vorzüglichen Fischgerichte und die pittoreske Felsküste möchten wir noch einmal erleben. Schnell bleibt die Bay von Pevensey und die Felsnase von Beachy Head hinter uns. Nach einigen Ausweichmanövern um Fischbojen beruhigt sich die Lage und das Wellenmuster wird gleichmässiger. Wir näheren uns der Hauptverkehrsroute der Grossschiffahrt im Tiefwasserbereich. Nach erneuter Prüfung der Datenlage diskutieren wir die geplante Strecke erneut und entscheiden: Richtungswechsel. Neues Ziel Boulogne sur mer. Für die nächsten Tage liegt eine Sturmwarnung in der nördlichen Nordsee vor. Die Starkwindausläufer ziehen sich auch in den Kanal und machen ein Weiterkommen schwierig. Ein seit Wochen festliegendes Hoch beschwert Nord- und Nordostwind. War es für unsere Hinreise ideal so heisst es jetzt gegenan. Nach Abklingen des Windes steht aber noch ein oder zwei Tage eine Welle aus der Richtung. So beschliessen wir bei noch günstigen Bedingungen das Kap Gris Nez zu runden, an der engsten Stelle zwischen Frankreich und England und keine Zeit durch einen zu südlichen Standort zu verlieren. Der Segelplan wird für den neuen Kurs auf Genua und Besan umgestellt. Raumschots segeln wir unserem neuen Ziel entgegen. Zwar müssen wir die Verkehrsrouten im rechten Winkel kreuzen und eine etwas längere Strecke in Kauf nehmen, doch unsere neue Strategie erscheint uns dennoch günstiger im Hinblick auf die kommenden Tage. Wieder einmal bewährt sich das AIS (Automatic Information System) ausgezeichnet mögliche Kollisionen mit Frachtern vorherzusehen und den Kurs rechtzeitig anzupassen. Die Verkehrsdichte ist heute enorm. Teilweise haben wir 7-8 Cargos in dichtem Abstand aufgereiht zu berücksichtigen. Bald steht der Flaggenwechsel an. Wir haben die französischen Hoheitsgewässer erreicht. Wind und Wellen legen zu. Die See kann nur noch als konfus bezeichnet werden.

Wir werden richtig durchgeschüttelt. Jetzt ist Handsteuerung angesagt. Axel versucht uns auf Kurs zu halten. Das erfordert Konzentration. Ich prüfe in der Karte die Bodenlinien. Keinen Reim können wir uns auf diese merkwürdigen Verhältnisse machen. Es ist ähnlich wie auf einem Bullride sich auf der Cockpitbank zu halten. Das harte Einschlagen des Besansegels bei den ungewollten wellenbedingten Patenthalsen ist auch nicht gesund für das Rigg. Der Ritt nimmt erst ein Ende nachdem wir die imposanten Wellenbrecher Boulgone sur mer´s gerundet haben.

Wenige Meter gleiten die furchteinflössenden wuchtigen dunklen Blöcke am Rumpf vorbei. Uff.. das wäre geschafft. Die Einfahrt ist trickreich, da eine bei Flut überspülte alte Mole an Backbord berücksichtigt werden muss.

Hafen von Boulogne sur mer

Im geschützten Binnenbereich liegt eine Fischereiflotte und ein schöner Sandstrand mit gelbem Sand, weissen Badehäuschen und einer Promenade machen einen einladenden Eindruck. Ein junger Hafenmeister weist uns einen Platz zu und nimmt die Leinen entgegen. Der Hafen ist schon zu dreiviertel belegt. Wir hatten noch überlegt hier Diesel zu tanken, doch dies schnell verworfen, da ein sehr kurzer Ponton nur bei Hochwasser angefahren werden kann. Eine Besonderheit abgesehen von dem ohnehin sehr hohen Tidenhub sind die Spülschleusen für den oberen Flusslauf, die eine starke Strömung im Hafenbecken erzeugen. Vor Jahren sind wir aus diesem Grund von einer anderen Yacht in diesem Hafen am Heck angefahren worden, da das Schiff so starkt versetzt wurde bei seinem Anlegemanöver, dass es auf uns trieb. Zum Glück erfolgt die Spülung heute am späten Abend, wo es keine Schiffsbewegung mehr gab. Weisser Schaum treibt in Flocken vorbei.

Wir drehen eine Runde durch die Innenstadt und ergattern noch vor Ladenschluss einige Lebensmittel. Es ist sauberer geworden und vieles modernisiert. Unser erster französischer Hafen auf dieser Reise überrascht uns positiv.  

Doch Zeit für Erkundungen bleibt nicht. Das Wetter diktiert unsere Reisegeschwindigkeit. Durch einen besonderen Effekt des Strömungsverlaufes am Kap Gris Nez (Graue Nase) geht die Zeitplanung mit einer Optimierung des für die Fahrrichtung günstigen Verlaufes einher. Dafür müssen wir einen sehr frühen Start um 3.00 Uhr morgens bei Dunkelheit in Kauf nehmen, denn wer hat schon Lust sich bei bis zu 3,5 Knoten Gegenströmung festzufahren?